
Chronische innere Anspannung ist selten ein reines Kopfproblem, sondern meist eine im Körper gespeicherte Überlebensreaktion, die durch mentale Techniken allein nicht lösbar ist.
- Die Polyvagal-Theorie erklärt, wie unser Nervensystem unbewusst nach Gefahr sucht (Neurozeption) und körperliche Anspannung als Schutzmechanismus erzeugt.
- Der Schlüssel zur Auflösung liegt darin, dem Körper durch achtsame Wahrnehmung und sanfte Übungen Sicherheit zu signalisieren, anstatt die Symptome zu bekämpfen.
Empfehlung: Beginnen Sie damit, die subtilen Signale Ihres Körpers (wie Kieferpressen oder Magenverstimmung) nicht als Feind, sondern als wichtigen Botschafter zu betrachten.
Dieses ständige Gefühl der inneren Unruhe, als würde ein Motor laufen, der sich nicht abstellen lässt. Ein Kloß im Hals, ein verspannter Kiefer am Morgen oder ein flaues Gefühl im Magen ohne ersichtlichen Grund. Viele Menschen kennen diese Symptome und versuchen, sie mit gut gemeinten Ratschlägen zu bekämpfen: tief durchatmen, einen Spaziergang machen, positiv denken. Doch oft bringen diese Methoden nur eine flüchtige Erleichterung, weil die Anspannung tiefer sitzt. Sie ist nicht nur ein Gedanke oder ein Gefühl, sondern eine körperliche Realität, ein Echo vergangener Stress- oder Überforderungssituationen, das im Nervensystem feststeckt.
Was wäre, wenn die wahre Ursache dieser chronischen Anspannung nicht in Ihren aktuellen Sorgen liegt, sondern im sogenannten Körpergedächtnis? Wenn Ihr Körper unbewusst in einem alten Alarmzustand verharrt? Der Schlüssel zur nachhaltigen Gelassenheit liegt nicht darin, noch mehr zu versuchen, sich zu „entspannen“, sondern darin, eine neue Sprache zu lernen: die Sprache Ihres Körpers. Es geht darum, die Signale zu verstehen, die Ihr Nervensystem sendet, und ihm zu helfen, sich endlich wieder sicher zu fühlen. Dieser Ansatz, der tief in der modernen körperorientierten Psychotherapie und Neurobiologie verwurzelt ist, betrachtet Anspannung nicht als Feind, sondern als fehlgeleitete Schutzenergie, die einen sanften Weg zurück ins Gleichgewicht braucht.
Dieser Artikel ist eine Einladung, diesen Weg zu gehen. Wir werden erforschen, wie sich emotionale Spannungen im Körper manifestieren und wie Sie lernen können, diese Signale zu deuten. Anhand von praktischen, körperorientierten Übungen – von der Progressiven Muskelentspannung über Erdungstechniken bis hin zu den Prinzipien des Yogas – zeigen wir Ihnen, wie Sie die im Körper gespeicherte Energie behutsam lösen können, um nicht nur vorübergehend, sondern tief und nachhaltig zu innerer Ruhe und Stärke zu finden.
Inhaltsverzeichnis: Ihr Wegweiser zu tief sitzender innerer Ruhe
- Ihr Körper lügt nicht: Wie Sie lernen, die körperlichen Signale von Anspannung – von der Kieferklemme bis zum nervösen Magen – zu deuten
- Die Körperreise: Eine geführte Anleitung, um innere Anspannung bewusst wahrzunehmen und loszulassen
- Anspannen, loslassen, entspannen: Die Schritt-für-Schritt-Anleitung zur Progressiven Muskelentspannung
- Was Sie nicht fühlen wollen, macht Sie krank: Wie unterdrückte Gefühle zu chronischer Anspannung führen und wie Sie lernen, sie zuzulassen
- Zurück auf den Boden der Tatsachen: 5 sofort wirksame Erdungsübungen bei akuter innerer Unruhe und Panik
- Hören Sie auf Ihren Bauch: Wie Sie lernen, die subtilen Signale Ihres Körpers zu deuten und ihm wieder zu vertrauen
- Mehr als nur Muskeln: Wie achtsame Berührung Ihr Nervensystem beruhigt und die Seele nährt
- Yoga ist mehr als Sport: Wie Sie durch die achtsame Praxis von Asana, Pranayama und Meditation zu innerer Stärke und Gelassenheit finden
Ihr Körper lügt nicht: Wie Sie lernen, die körperlichen Signale von Anspannung – von der Kieferklemme bis zum nervösen Magen – zu deuten
Chronische Anspannung ist selten ein abstraktes Gefühl. Sie spricht eine klare, physische Sprache: Zähneknirschen in der Nacht, ein permanent hochgezogener Schultergürtel, eine flache Atmung oder Verdauungsprobleme. Diese Symptome sind keine Einbildung, sondern direkte Botschaften Ihres autonomen Nervensystems (ANS). Die Polyvagal-Theorie von Dr. Stephen Porges gibt uns hierfür ein revolutionäres Verständnis. Sie beschreibt einen Prozess namens Neurozeption: die unbewusste Fähigkeit unseres Nervensystems, die Umgebung permanent auf Sicherheit und Gefahr zu scannen, lange bevor unser Verstand überhaupt reagiert.
Wenn die Neurozeption Gefahr wittert – sei es durch realen Stress oder durch alte, ungelöste Traumata – schaltet das System in einen Überlebensmodus. Dies kann der sympathische Zustand (Kampf oder Flucht) sein, der sich durch erhöhte Muskelspannung, Herzrasen und innere Unruhe äußert. Oder es ist der dorsal-vagale Zustand (Erstarrung), der zu einem Gefühl der Taubheit, des Rückzugs und einer Art „eingefrorener“ Energie im Körper führt. Der erste Schritt zur Heilung ist, diese Zustände in sich selbst zu erkennen, ohne sie zu bewerten. Ein verspannter Kiefer ist dann nicht mehr nur „lästig“, sondern ein Signal dafür, dass Ihr System sich in einem Kampf- oder Flucht-Modus befindet und Unterstützung braucht.
Neurozeption bezeichnet die Fähigkeit des ANS – automatisch und ohne dass wir dies bewusst wahrnehmen – die Umgebung ständig darauf zu überprüfen, ob sie sich sicher, bedrohlich oder gar lebensgefährlich darstellt.
– Stephen Porges, Die Polyvagal-Theorie
Lernen Sie, die drei primären Zustände Ihres Nervensystems zu unterscheiden. Der ventral-vagale Zustand ist der Zustand der Sicherheit und sozialen Verbundenheit, geprägt von ruhiger Atmung und entspannten Muskeln. Der sympathische Zustand ist der der Mobilisierung, oft spürbar durch Anspannung und Aktivität. Der dorsal-vagale Zustand ist der der Immobilisierung, der sich als Kollaps oder Taubheit anfühlen kann. Dieses Wissen verwandelt Verwirrung in Klarheit und ist die Grundlage für jede bewusste Veränderung.
Die Körperreise: Eine geführte Anleitung, um innere Anspannung bewusst wahrzunehmen und loszulassen
Nachdem wir verstanden haben, dass Anspannung eine Sprache des Körpers ist, folgt der nächste Schritt: das Zuhören. Eine „Körperreise“, oft auch als Body Scan bezeichnet, ist eine sanfte Methode, um mit dem eigenen Körper wieder in Kontakt zu treten. Es geht nicht darum, die Anspannung sofort „wegzumachen“, sondern sie zunächst neugierig und ohne Urteil wahrzunehmen. Suchen Sie sich einen ruhigen Ort, an dem Sie für einige Minuten ungestört sind. Schließen Sie die Augen und lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit nacheinander auf verschiedene Körperteile, von den Zehen bis zum Kopf.
Wo spüren Sie Wärme, Kribbeln oder Lebendigkeit? Und wo nehmen Sie Enge, Druck oder Taubheit wahr? Bleiben Sie bei den angespannten Stellen für ein paar Atemzüge. Fragen Sie innerlich: „Was ist das für eine Empfindung? Ist sie hart oder weich, warm oder kalt, pulsierend oder still?“ Allein durch diese achtsame Zuwendung kann sich bereits etwas verändern. Im Somatic Experiencing, einer körperorientierten Traumatherapie, wird eine Technik namens Pendulation genutzt: das sanfte Pendeln der Aufmerksamkeit zwischen einem Ort der Anspannung und einem Ort im Körper, der sich neutral oder angenehm anfühlt. Dies verhindert eine Überforderung des Nervensystems und zeigt ihm, dass es neben der Gefahr auch Sicherheit und Ressourcen gibt.

Dieses bewusste Wahrnehmen ist entscheidend, denn viele Menschen mit chronischer Anspannung haben aufgrund von unsicheren Bindungserfahrungen den Kontakt zu ihrem Körper als sicheren Ort verloren. Wie eine Studie zur Pendulation-Technik aus dem Somatic Experiencing nahelegt, ist das Gefühl, im eigenen Körper zu Hause zu sein, tief mit frühen Erfahrungen von Sicherheit und Geborgenheit verknüpft. Die Körperreise ist eine Möglichkeit, dieses Gefühl von innerer Sicherheit behutsam neu zu kultivieren und dem Körper zu signalisieren: „Ich höre dir zu. Du bist sicher.“
Anspannen, loslassen, entspannen: Die Schritt-für-Schritt-Anleitung zur Progressiven Muskelentspannung
Die Progressive Muskelentspannung (PMR) nach Edmund Jacobson ist eine klassische und hochwirksame Methode, um dem Körper den Unterschied zwischen Anspannung und Entspannung wieder beizubringen. Das Prinzip ist genial einfach: Durch das bewusste, kurzzeitige Anspannen einer Muskelgruppe und das anschließende abrupte Loslassen wird eine tiefe körperliche und geistige Entspannung hervorgerufen. Für ein Nervensystem, das im Dauerstress verharrt, ist dies wie ein „Reset“-Knopf. Der Körper lernt wieder, wie sich der Zustand der Ruhe überhaupt anfühlt.
Für eine vollständige PMR-Sitzung sollten Sie sich 20-30 Minuten Zeit nehmen. Beginnen Sie bei den Händen und Armen, spannen Sie die Muskeln für etwa 5-7 Sekunden fest an – ohne Schmerz zu erzeugen – und lassen Sie dann schlagartig los. Spüren Sie dem Gefühl der Entspannung für 20-30 Sekunden nach. Arbeiten Sie sich so durch den ganzen Körper: Gesicht, Nacken, Schultern, Rücken, Bauch, Beine und Füße. Wichtig ist die Konzentration auf die Empfindungen während des Loslassens. In Deutschland ist die Wirksamkeit so gut belegt, dass die Progressive Muskelentspannung als anerkannter Präventionskurs nach § 20 SGB V von vielen Krankenkassen bezuschusst wird.
Das Schöne an PMR ist ihre Anpassungsfähigkeit. Es gibt Kurzformen, die sich diskret am Arbeitsplatz durchführen lassen, um akuten Stress abzubauen. Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über verschiedene Anwendungsmöglichkeiten:
| Situation | Übungsdauer | Muskelgruppen | Besonderheit |
|---|---|---|---|
| Büro/Arbeitsplatz | 5-10 Min | Diskrete Übungen (Zehen, Oberschenkel) | Unauffällig am Schreibtisch durchführbar |
| Zu Hause | 20-30 Min | Vollständiger Körperdurchlauf | Ideale Entspannung vor dem Schlafengehen |
| Kurzform | 10 Min | 4er Form – zusammengefasste Gruppen | Für Fortgeschrittene im Alltag |
Regelmäßige Praxis der PMR schult die Körperwahrnehmung enorm. Sie werden im Alltag schneller bemerken, wenn sich Muskeln unbewusst anspannen, und können dann gezielt gegensteuern. So wird aus einer passiven Reaktion auf Stress eine aktive und selbstwirksame Regulation.
Was Sie nicht fühlen wollen, macht Sie krank: Wie unterdrückte Gefühle zu chronischer Anspannung führen und wie Sie lernen, sie zuzulassen
Oft ist chronische Anspannung der körperliche Ausdruck von Gefühlen, die wir uns nicht erlauben zu fühlen. Wut, Trauer, Angst oder Scham werden als bedrohlich empfunden und daher unbewusst unterdrückt. Dieser Akt der Unterdrückung erfordert jedoch einen enormen Kraftaufwand des Nervensystems. Die Muskeln spannen sich an, um den Gefühlsimpuls zurückzuhalten – ein Prozess, der sich über Jahre zu einer chronischen Grundanspannung verfestigen kann. Der „Kloß im Hals“ kann unterdrückte Tränen oder unausgesprochene Worte sein, der „Panzer“ um die Brust eine Abwehr gegen Verletzlichkeit.
Wir neigen dazu zu glauben, unser Gehirn sei der alleinige Chef. Doch die moderne Forschung zeigt ein anderes Bild. Die Kommunikation zwischen Körper und Gehirn ist keine Einbahnstraße. Es ist ein ständiger Dialog, ein Regelkreislauf. Die Polyvagal-Theorie unterstreicht dies eindrücklich.
Nicht nur das Gehirn steuert das Nervensystem, sondern auch das Nervensystem handlungsanweisende Informationen an das Gehirn weiterleitet. Bis zu 80% unserer Kommunikation erfolgt vom Körper zum Gehirn und nicht umgekehrt. Dadurch entsteht eine Art kommunikativer Regelkreislauf von Gehirn und Körper.
– Stephen W. Porges, Polyvagaltheorie – die Definition
Das bedeutet: Ein angespannter Körper sendet permanent Stresssignale an das Gehirn, das daraufhin die Welt als gefährlicher interpretiert und wiederum den Körper in Alarmbereitschaft versetzt. Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, müssen wir lernen, Gefühle im Körper sicher zu halten und zuzulassen, ohne von ihnen überschwemmt zu werden. Dies kann durch Techniken wie die „Tresor-Übung“ aus der Traumatherapie geschehen, bei der man sich vorstellt, ein überwältigendes Gefühl für eine Weile sicher in einem Tresor zu verwahren, um sich ihm später in einem sicheren Rahmen (z.B. in der Therapie) zuzuwenden. Eine weitere zentrale Rolle spielt die Co-Regulation: die Fähigkeit eines ruhigen Nervensystems (z.B. eines Therapeuten oder eines vertrauten Menschen), ein übererregtes System zu beruhigen. Allein die Präsenz einer sicheren, nicht wertenden Person kann unserem Körper das Signal geben, dass es ungefährlich ist, die Anspannung und die dahinterliegenden Gefühle loszulassen.
Zurück auf den Boden der Tatsachen: 5 sofort wirksame Erdungsübungen bei akuter innerer Unruhe und Panik
Wenn die innere Unruhe überhandnimmt, der Kopf rast und eine Panikattacke droht, verlieren wir den Kontakt zum Hier und Jetzt. Unser Nervensystem ist im Überlebensmodus gefangen. In solchen Momenten sind mentale Strategien wie „denk doch an etwas Schönes“ oft wirkungslos. Was wir brauchen, ist eine schnelle und klare Botschaft an den Körper: „Du bist sicher, genau hier, genau jetzt.“ Erdungsübungen (Grounding) sind dafür ideal. Sie nutzen intensive Sinnesreize, um die Aufmerksamkeit aus der Spirale der Angst zurück in die physische Realität zu lenken.
Diese Übungen aktivieren das propriozeptive System (die Wahrnehmung der eigenen Körperposition im Raum) und das vestibuläre System (Gleichgewichtssinn), was eine stark beruhigende und regulierende Wirkung auf das Nervensystem hat. Hier sind fünf sofort anwendbare Techniken:
- Fest auf den Boden stampfen: Stehen Sie auf und stampfen Sie einige Male kräftig mit den Füßen auf den Boden. Spüren Sie die Vibration und den festen Kontakt unter Ihnen. Dies aktiviert das propriozeptive System.
- Sich gegen eine Wand drücken: Stellen Sie sich mit dem Rücken oder den Händen gegen eine stabile Wand und drücken Sie für einige Sekunden kräftig dagegen. Spüren Sie den Widerstand und die Kraft in Ihren Muskeln.
- Sanft von einer Seite zur anderen wiegen: Stehen oder sitzen Sie und wiegen Sie Ihren Oberkörper sanft von links nach rechts, wie ein Baum im Wind. Diese vestibulare Stimulation wirkt sehr beruhigend.
- Kaltes Wasser über die Handgelenke laufen lassen: Der Kältereiz auf den Pulsadern aktiviert den sogenannten Tauchreflex, der die Herzfrequenz verlangsamt und das parasympathische Nervensystem anregt.
- Schultern hochziehen und fallen lassen: Ziehen Sie beim Einatmen die Schultern fest zu den Ohren und lassen Sie sie beim Ausatmen mit einem Seufzer fallen. 5-10 Mal wiederholen, um die Spannung im Nacken- und Schulterbereich bewusst zu lösen.

Diese Übungen sind keine langfristige Therapie, aber sie sind ein unschätzbar wertvoller „Notfallkoffer“. Sie unterbrechen den Panik-Kreislauf und geben Ihnen das Gefühl der Selbstwirksamkeit zurück: die Erfahrung, dass Sie Ihrer inneren Unruhe nicht hilflos ausgeliefert sind.
Ihr Aktionsplan: Den eigenen Spannungs-Mustern auf der Spur
- Kontaktpunkte identifizieren: Führen Sie für eine Woche ein kleines Tagebuch. Notieren Sie, wann und wo am Körper Sie Anspannung spüren (z.B. Kiefer beim Autofahren, Magen vor einem Meeting).
- Signale sammeln: Beschreiben Sie die Empfindung so genau wie möglich. Ist sie spitz, dumpf, ziehend, heiß, kalt? Welche Gedanken oder Gefühle begleiten sie?
- Muster erkennen: Vergleichen Sie Ihre Notizen. Gibt es wiederkehrende Auslöser? Erkennen Sie einen Zusammenhang zwischen bestimmten Situationen und körperlichen Reaktionen?
- Ressourcen finden: Notieren Sie auch Momente der Entspannung. Was hat geholfen? Eine Tasse Tee, ein kurzes Gespräch, der Blick aus dem Fenster? Dies sind Ihre persönlichen Sicherheitsanker.
- Integrationsplan erstellen: Wählen Sie eine der hier vorgestellten Übungen (z.B. eine kurze PMR-Einheit) und planen Sie sie fest in Ihren Tag ein, am besten präventiv, bevor die Anspannung zu hoch wird.
Hören Sie auf Ihren Bauch: Wie Sie lernen, die subtilen Signale Ihres Körpers zu deuten und ihm wieder zu vertrauen
Das „Bauchgefühl“ ist weit mehr als eine Redewendung. Es ist ein Ausdruck der komplexen Verbindung zwischen unserem Verdauungstrakt und unserem Gehirn, bekannt als die Darm-Hirn-Achse. Unser Darm beherbergt ein eigenes, komplexes Nervensystem – das enterische Nervensystem – und eine riesige Gemeinschaft von Mikroorganismen (das Mikrobiom), die beide in ständigem Austausch mit unserem Gehirn stehen. Dieser Austausch ist keine Nebensache; er ist fundamental für unsere emotionale Verfassung. Chronischer Stress und ungelöste Anspannung können das Gleichgewicht des Mikrobioms empfindlich stören und zu Verdauungsproblemen führen, die wiederum Angst- und Stresssignale an das Gehirn zurücksenden.
Erstaunlicherweise findet ein Großteil dieser Kommunikation von unten nach oben statt. Aktuelle Forschungen zur Darm-Hirn-Achse zeigen, dass bis zu 80% der Nervensignale vom Körper, insbesondere vom Vagusnerv, der den Darm innerviert, zum Gehirn laufen und nicht umgekehrt. Ihr Bauch „spricht“ also ununterbrochen mit Ihrem Kopf. Wenn Sie lernen, auf diese Signale zu hören – das flaue Gefühl, das vor einer falschen Entscheidung warnt, oder die wohlige Entspannung nach einer nährenden Mahlzeit –, erschließen Sie sich eine Quelle tiefster intuitiver Weisheit.
Das Vertrauen in diese Signale wiederherzustellen, bedeutet auch, den Körper gut zu nähren. Hier zeigt sich, wie traditionelles Wissen oft moderne Wissenschaft vorwegnimmt. Ein klassisches Beispiel aus der deutschen Kultur ist Sauerkraut.
Fallbeispiel: Traditionelles Sauerkraut und die Darm-Hirn-Achse
Traditionell hergestelltes, unpasteurisiertes Sauerkraut ist ein fermentiertes Lebensmittel, reich an probiotischen Bakterien. Diese nützlichen Bakterien unterstützen nachweislich ein gesundes Mikrobiom im Darm. Ein ausgeglichenes Mikrobiom kann die Produktion von Neurotransmittern wie Serotonin (oft als „Glückshormon“ bezeichnet) positiv beeinflussen und entzündungshemmend wirken. Der regelmäßige Verzehr kann so die Kommunikation entlang der Darm-Hirn-Achse verbessern und zur Reduzierung von Stress- und Angstsymptomen beitragen. Dies ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie intuitive Ernährungsweisheit die körperliche und seelische Resilienz stärken kann.
Indem Sie auf Ihren Bauch hören und ihn gut versorgen, stärken Sie nicht nur Ihre Verdauung, sondern auch Ihre Fähigkeit, Stress zu regulieren und sich in Ihrer Haut sicher und geborgen zu fühlen.
Mehr als nur Muskeln: Wie achtsame Berührung Ihr Nervensystem beruhigt und die Seele nährt
In einer Welt, die oft von Hektik und Distanz geprägt ist, unterschätzen wir die tiefgreifende Wirkung von achtsamer Berührung. Berührung ist unsere erste Sprache. Als Säuglinge sind wir für unser Überleben auf die körperliche Nähe und Berührung unserer Bezugspersonen angewiesen. Sie reguliert unsere Körpertemperatur, unseren Herzschlag und unser Stresslevel. Diese grundlegende neurobiologische Funktion bleibt unser ganzes Leben lang erhalten. Achtsame, sichere Berührung ist eine der kraftvollsten Möglichkeiten, unserem Nervensystem direkt die Botschaft von Sicherheit zu vermitteln.
Dies kann durch die Berührung einer anderen Person geschehen, etwa in einer liebevollen Umarmung, einer professionellen Massage oder in der körperorientierten Therapie. Dieser Prozess wird Co-Regulation genannt: Ein reguliertes, ruhiges Nervensystem hilft einem dysregulierten, gestressten System, wieder ins Gleichgewicht zu finden. Dies ist besonders für Menschen mit Traumafolgen entscheidend, für die Nähe oft mit Gefahr verknüpft ist. Wie Stephen Porges erklärt, ist die Co-Regulation die Voraussetzung dafür, sich sicher genug zu fühlen, um überhaupt soziale Beziehungen einzugehen.
Aber auch die Selbstberührung ist ein unschätzbar wertvolles Werkzeug. Wenn Sie sich unruhig fühlen, versuchen Sie, eine Hand auf Ihr Herz und die andere auf Ihren Bauch zu legen. Spüren Sie die Wärme Ihrer Hände und den sanften Druck. Atmen Sie in Ihre Hände hinein. Oder umschließen Sie mit einer Hand sanft Ihren Oberarm. Diese einfachen Gesten aktivieren den ventral-vagalen Anteil unseres Nervensystems, der für Sicherheit und soziale Verbundenheit zuständig ist. Sie geben dem Körper das Gefühl, gehalten und umsorgt zu sein. Es ist eine nonverbale Botschaft der Selbstannahme und des Mitgefühls, die oft wirksamer ist als jedes positive Selbstgespräch. Achtsame Berührung nährt nicht nur die Seele, sie ist eine direkte und wirksame Form der Nervensystem-Regulation.
Das Wichtigste in Kürze
- Innere Anspannung ist eine körperliche Reaktion Ihres Nervensystems, nicht nur ein Gedanke. Der Schlüssel liegt darin, die Sprache des Körpers zu verstehen.
- Die Polyvagal-Theorie zeigt, dass unser Körper unbewusst nach Sicherheit sucht. Chronische Anspannung ist oft ein Zeichen für ein Gefühl der Unsicherheit.
- Nachhaltige Gelassenheit entsteht, indem Sie lernen, Ihrem Körper durch achtsame Wahrnehmung, sanfte Bewegung und Berührung Sicherheit zu signalisieren.
Yoga ist mehr als Sport: Wie Sie durch die achtsame Praxis von Asana, Pranayama und Meditation zu innerer Stärke und Gelassenheit finden
Yoga wird oft als Fitness-Trend missverstanden, doch in seinem Kern ist es eine jahrtausendealte Praxis zur Harmonisierung von Körper, Geist und Atem. Für Menschen mit chronischer Anspannung bietet Yoga einen einzigartigen Weg, da es direkt am Nervensystem ansetzt. Die Kombination aus Körperhaltungen (Asana), Atemübungen (Pranayama) und Meditation schult die Interozeption – die Fähigkeit, innere Körperzustände wahrzunehmen. Anstatt Anspannung zu bekämpfen, lernen wir im Yoga, sie neugierig zu erforschen und durch den Atem Raum zu schaffen.
Nicht jeder Yoga-Stil ist jedoch für jeden Zustand des Nervensystems geeignet. Wer sich bereits übererregt und unruhig fühlt (sympathischer Zustand), profitiert weniger von einem dynamischen, kraftvollen Vinyasa-Flow. Hier sind sanfte, regenerative Stile wie Yin Yoga oder Restorative Yoga heilsamer, da sie das beruhigende parasympathische Nervensystem aktivieren. Für Menschen, die sich eher in einem Zustand der Erstarrung oder Energielosigkeit befinden (dorsal-vagaler Zustand), können sanft aktivierende Haltungen helfen, wieder Lebendigkeit und Kraft zu spüren. Besonders traumasensibles Yoga (TSY) gewinnt in Deutschland zunehmend an Bedeutung. Es legt den Fokus auf Wahlmöglichkeiten, das Spüren des eigenen Körpers und die Schaffung eines absolut sicheren Raumes, was es zu einer wertvollen Ergänzung in der Traumatherapie macht.
Die folgende Tabelle gibt eine Orientierung, welcher Yoga-Stil in welchem Zustand unterstützend wirken kann. Viele dieser Kurse werden in Deutschland ebenfalls als Präventionskurse von den Krankenkassen bezuschusst.
| Yoga-Stil | Wirkung auf Nervensystem | Geeignet für | Krankenkassen-Zuschuss |
|---|---|---|---|
| Yin Yoga | Beruhigend, parasympathisch | Überreiztes Nervensystem | Als Präventionskurs möglich |
| Restorative Yoga | Tief entspannend | Erschöpfung, Burnout | Häufig bezuschusst |
| Traumasensibles Yoga (TSY) | Sicherheit gebend | Traumafolgen | Teilweise als Therapie |
| Vinyasa | Aktivierend | Unterforderung | Als Präventionskurs |
Letztendlich geht es im Yoga nicht darum, eine perfekte Haltung zu erreichen. Es geht darum, eine Haltung der Freundlichkeit und Akzeptanz gegenüber sich selbst und den eigenen Empfindungen zu kultivieren. Jede achtsame Bewegung und jeder bewusste Atemzug ist eine Botschaft der Sicherheit an Ihr Nervensystem und ein Schritt hin zu tiefer, verkörperter Gelassenheit.
Beginnen Sie noch heute diese sanfte Reise zu sich selbst. Der erste Schritt ist nicht, etwas zu verändern, sondern lediglich, mit einer Haltung der neugierigen Freundlichkeit wahrzunehmen, was bereits in Ihnen ist.